Immer noch gibt es ein gewisses Unbehagen an der digitalen Kultur. Nicht etwa weil Consultingunternehmen eindringlich zur Digitalisierung im Namen der Zukunft und Wettbewerbsfähigkeit mahnen. Auch nicht, weil Mitarbeiter wegen der superklugen KIs und Robots um ihre Arbeitsplätze fürchten. Oder Zuständigkeiten für die Digitalisierung in Unternehmen nicht klar sind. Es ist eher dieser Beigeschmack von Indifferenz. Es fehlt neben der Innovationsflut an Wordings und digitalen Lösungen vielfach an Inhalten, Cases und Anschauungsbeispielen für die unternehmerische Praxis. Die Frage, die immer wieder im Raum steht: „Digitalisierung ja, aber wie!“
1. Digitalisierung ist einfach, wenn man weiß, worum es eigentlich geht!
Die Digitalisierung ist im Grunde nichts Neues. Die industrielle Produktion in Deutschland ist schon lange von einem hohen Automatisierungsgrad geprägt. Neu ist die digitale Vernetzung – in der Arbeitswelt wie im Dienstleistungs-, Konsum- und Lebensumfeld. Das Smartphone hat diese Entwicklung entscheidend gepusht. Wenn alles mit allem vernetzt sein soll, der Kern der Internet-of-things-Vision, ist die Gewinnung und Verwertung von Daten für Industrie-, Marketing- und Handelszwecke die logische Konsequenz. „Die Nutzung von Daten ist der Markt der Zukunft, weil er in alle anderen Märkte eingreift,“ heißt es im „Kursbuch Arbeiten 4.0“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
Das stellt klassischen Vertrieb, Callcenter und Ladengeschäfte vor ein Problem: Sie haben ihre Kundendaten meist nie vollumfänglich digital erfasst oder verknüpft. Die Kunden sind auch noch nicht daran gewöhnt. Geschäfts-, Arbeits- und Unternehmensmodelle können im digitalen Zeitalter nur aus der Datenwertschöpfung heraus gedacht und aufgebaut werden. „Sorge für den Zugriff auf Daten und sorge dafür, dass deine Kunden sie dir freiwillig geben“ lautet die Antwort für Unternehmen, die sich fragen, wie sie denn die digitale Transformation angehen sollen. Das benötigte digitale Ökosystem ergibt sich daraus.
2. Digitalisierung ist kein Alibi für Bequemlichkeit!
Jeder UX/UI Experte wird Unternehmen die DOS und DONTS der Customer Centricity einbläuen. Der angebotene Customer Success mag für User eine „coole, geile Sache“ sein, aber für ein nachhaltiges Markenerlebnis braucht es schon ein paar Anreize mehr. Im Heft „Über Morgen“ der w&v schreibt die Motivforscherin Dr. Helene Karmasin: „Menschen kaufen nicht die Nützlichkeit, sondern die Bedeutung eines Produkts…Im digitalen Zeitalter müssen Menschen diese Rolle der Marke fühlen können.“ Und weiter: „Auf den Märkten des digitalen Zeitalters kommt es noch viel stärker darauf an, genau zu erkennen, welche Rolle ein Produkt in der Lebens-, Motiv- und Gefühlswelt des Kunden spielen kann (…) Diejenige Marke wird gewinnen, die sich stark in die Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Kunden einfühlt, die subtil kulturelle Mythen ausnutzt und die sie raffiniert in Zeichenoberflächen übersetzt.“
Zu meinen, Algorithmen, digitale Kundenscans, Deep Learning oder prädikative Modelle wie Predictive und Advanced Analytics könnten Marketern diese „Persona-Ergebnisse“ brühwarm servieren, wäre die Sicht auf die digitale Welt, die Mathematiker und Technologen haben. In die Motivforschung einsteigen heißt, Interaktion – empathisch, hautnah, auf Tuchfühlung und tief in die Gespräche der Märkte und sozialen Medien eintauchend. Die motivforschende Arbeit, die kreative Konzeption von Marken bleibt ein „menschlich allzu menschliches, analoges Privileg“. Digitale Tools sind wertvolle „Hilfsmittel“. Doch nur Menschen können sich in Menschen hineinfühlen. Maschinen können sie nur imitieren in dem Maße, wie sie mit relevanten und strategisch zielführenden Daten gefüttert werden. Das ist analoge Kopfarbeit.
3. Digitalisierung erspart keinem die Markenarbeit!
In der digitalen Betriebsamkeit kann schon mal die Profilierung der Marke nach USP-Kriterien untergehen. Das Verführerische an den innovativen Nerdsolutions, die mir als Unternehmen Leads bringen, das Call-Center verschlanken, Customer Care perfekt beherrschen und Kosten sparen ist, dass die Markenarbeit an Bedeutung einbüßt. Die Marke dreht sich in Richtung einer interaktiven, digitalen Magic Box, die für hinreichende Highlights beim Customer Success sorgt.
Technologieprofile als Markenprofile? Schwierig. Zu fragen ist auch, wann der Grad von Digitalisierung erreicht ist, den ein Unternehmen für seine „Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit“ braucht. Markenerlebnisse schaffen, die von Kanälen, Displays und Apps nicht verschluckt werden, sondern tief in die Motiv- und Gefühlswelt des Konsumenten eindringen, bleibt eine übergeordnete Herausforderung.
4. Digitalisierung muss die Autonomie des Kunden respektieren!
Wenn Informatiker und Technologen die Welt neu entwickeln, wird diese immer ein Übergewicht an Daten, Formeln und Berechenbarkeit haben. Datengetriebenes Marketing bewegt das „Objekt Kunde“ im Berechnungsfokus von Zehntausenden an Parametern. Das ist der Rohstoff für Datenbanken, aus dem individuelle Angebote konfiguriert werden. In Echtzeit. Doch unterwandern digitale Lösungen nicht hier schon die Selbstbestimmung des Kunden, indem sie ihm die Entscheidung über seine Bedürfnisse abnehmen wollen?
Beispiel Chatfunktion: „Hallo, Sie hier. Was kann ich für Sie tun?“ Vielleicht nichts, weil der Besucher sich einfach nur informieren will. Digitale Aufdringlichkeit ist die Notlösung für Versäumnisse in der Markenführung. Entweder vertraue ich der Kraft meiner Marke, dass sie genügend Anziehungskraft freisetzt oder nicht. Digitale Verführungskünste wie sie gerade im Mobile Marketing gang und gäbe sind, kratzen an der Entscheidungshoheit des Users. Schön, wenn die Marke über verschiedene Kanäle und Formate dem User ein paar bleibende Eindrücke für seine Kundenreise mit auf den Weg gibt.
Digitale Aufdringlichkeit ist die Notlösung für Versäumnisse in der Markenführung.
5. Digitalisierung darf auch in kleinen Schritten erfolgen!
Digitalisierung funktioniert als neue „Weltreligion“ der Wirtschaft. Um so besser, wenn sie genügend Cases und Bedienungsanleitungen mitliefert. Hier sollten die Prediger des Digitalen den praxistauglichen Digitalisierungskatechismus am besten gleich mitliefern. Doch lassen wir die Kirche im Dorf. Es ist kein Geheimnis, dass eine besonders hohe digitale Wertschöpfung Industrie- und Handelsunternehmen erzielen, die die digitale Transformation zu 100 Prozent durchdeklinieren und damit Prozesse noch schneller, noch kosteneffizienter, noch kundenzentrierter machen können. Und obendrein ein analoges Geschäftsmodell komplett und neu erfunden haben.
Bestes Beispiel Amazon, der Inbegriff einer digitalen Handelsmarke. Andere Handels- und Vertriebsunternehmen sind in digitaler, kundenzentrierter Reichweite – wenn auch noch mit genügendem Abstand, jedoch digital perfekt durchorganisiert. Also digitale Teillösungen sind durchaus erlaubt. Niemand muss sein Unternehmen von rechts auf links drehen. Und Abteilungsdenken kann hier auch zu einer gesteigerten Produktivität führen, ohne sie gleich Silodenken zu nennen.
Bleiben Sie entspannt!
Der Unternehmensberater Albrecht Müllerschön bezeichnet „Angst“ als ein ganz normales Phänomen in „Change-Management-Prozessen“. Ganz gleich, welche Veränderungen n Unternehmens-, Organisationsstrukturen anstehen, es wird nicht reibungslos und angstfrei gehen. Wer jedoch Angst als mögliches „Kalkül“ berücksichtigt, kann den digitalen Veränderungsprozess besser kommunizieren und managen. Unbehagen lässt sich mit Analysen, Fachwissen und einer klaren Strategie entzaubern – und einer dem Unternehmen angemessenen Moderation der digitalen Transformation.
Quellen:
Über Morgen, Die Zukunft in einem Heft, w&v, Nr. 27, 2. Juli 2018
Arbeiten 4.0, DGB, o. Datum und Jahr
Digital Disruption, Wie Sie Ihr Unternehmen auf das digitale Zeitalter vorbereiten, Kurt Matzler, Franz Bailom, Stephan Friedrich von den Eichen, Markus Anschober, Verlag Franz Vahlen München
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